Wie «Corona» Rituale abstaubte und zum Aufräumen bewegte1
Barbara Goossens
https://doi.org/10.30820/2504-5119-2020-2-28
Wenn ich Menschen frage, was sie mit Ritualen in Verbindung bringen, dann sind dies meistens Rituale und Zeremonien festlicher oder religiöser Art. Die Geister scheiden sich, ob das tägliche Zähneputzen, der allmorgendliche Gang zum Kaffeestand oder die wöchentliche Gruppenmediation als Ritual verstanden werden können, oder schlichtweg eine Gewohnheit oder ein Automatismus sind. Die Rituale des Alltags, die auch als regelmässige Tätigkeiten beschrieben werden könnten, geben uns Struktur und Orientierung. Eine Orientierung, die dem Menschen Sinn und innere Sicherheit vermittelt.
Wenn ich auf die letzten Monate in meiner psychotherapeutischen Praxis und die Zeit des Lockdowns im Frühling dieses Jahres zurückblicke, dann habe ich von meinen PatientInnen gehört, dass sie sich verunsichert und bevormundet gefühlt haben. Ich habe auch beobachtet, dass Menschen in ihren täglichen Ritualen «beschnitten» wurden. Sie wurden quasi abgeschnitten von einem Teil, durch den sie ihr Leben und ihr Wohlbefinden unter anderem definieren, oder der ihnen – wenn auch unbewusst – Orientierung gibt und zu ihrem individuellen Selbstverständnis beiträgt. Zu Beginn bedurfte die plötzliche Einschränkung Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, gefolgt von Geduld und Durchhaltevermögen.
In den psychotherapeutischen Gesprächen zeigte sich wiederholt, wie aber auch schon «vor Corona», wie sehr wir vom Aussen, von unserem direkten Umfeld gelenkt werden und davon abhängig sind. Wie unfrei wir trotz aller gemeinten Freiheit eigentlich sind.
Vielleicht gab dies manchen den Anstoss zu einer vertieften Auseinandersetzung mit sich selbst. Ein über die Bücher gehen und «inneres Aufräumen», um einem «Einklang» mit sich selbst näher zu kommen, wurde umso aktueller, desto mehr sich der jeweilige individuelle «Schiefklang» durch Anspannung der Situation und durch das Wegfallen der Ablenkungen im Aussen unübersehbar zeigte. In diesem Sinne brachte die Zeit des Lockdowns und der telefonischen psychotherapeutischen Konsultationen auch Schätze mit sich. Gerade weil es keine Ablenkungsmöglichkeiten mehr gab, wagten sich einige PatientInnen während der Gespräche und danach im Alltag wirklich in die Tiefe zu gehen, hinzuschauen und konkrete Schritte der Veränderung, des Wachstums oder der Erweiterung in ihrem Leben umzusetzen. Etliche taten schon seit langer Zeit anstehende Schritte.
Einige Menschen, die bereits seit Jahren mit physischen, psychischen oder finanziellen Einschränkungen umgehen müssen, fühlten sich von ihrem Umfeld wahrhaftiger gesehen und verstanden. Mittels ihrer vielfältigen Erfahrung im Umgang mit Einschränkungen bekamen sie eine neue Stimme in ihrem Umfeld. Dies ermöglichte einen gesundheitsfördernden und stabilisierenden Perspektivenwechsel.
Das «innere Ausräumen» schien sich bei etlichen auch auf die weniger sichtbaren «Innenräume» des Wohnens auszuweiten. Auch wenn dies rein dazu diente, die Zeit zu füllen oder die Gunst der Stunde zu nutzen. Zwischen April und Juli schienen die Kartonbündel vor den Häusern in grösseren Volumen auf die Müllabfuhr zu warten als zuvor. Sagen doch die Chinesen, wenn du wissen willst, wie es jemandem wirklich geht, dann schaue dir seinen Keller oder den Estrich an. So stellt sich die Frage, ob das Aufräumen wohl als ein gesundheitsförderndes Ritual angesehen werden kann. Wäre es wohl einen Versuch wert, dass Psychotherapie vor Ort bei den PatientInnen zu Hause stattfinden kann, um gemeinsam aufzuräumen? Beim «Auf-Räumen» kommt man unweigerlich am eigenen Leben vorbei. Bestenfalls kann man sich von überflüssigem und verarbeitetem Ballast befreien.
Als der Lockdown aufgehoben wurde, kam Herr K. wieder in die kunst-psychotherapeutische Konsultation und meinte mit einem Schalk in den Augen, dass «der Maskenball wohl noch andauern wird». Nach einer anfänglichen Verunsicherung habe er die Zeit gut nutzen können, Brachliegendes endlich zu erledigt. Er sei richtig zu sich selbst gekommen. Er habe seine übliche Tätigkeit ausser Haus nun endlich auch im und um das Haus herum umsetzen können. Es sei eine der schönsten Zeiten für ihn gewesen. Er zeichnete ein Bild mit dem Titel Krönchensturm.
Herr K. erklärte dazu, dass er gelernt habe, dass «man einfach dort bleiben muss, wo man ist (zu Hause). In der Mitte des Sturms ist es ruhig. Immer mit der Mitte mitlaufen. Wenn man aus der Mitte herausgeht, dann gerät man in den Sturm und es fliegen die Krönlein. Im Sturm braucht man selbst auch ein Krönlein (eine Maske). Bleibt man in der Mitte, braucht man kein Krönlein.» Die Tatsache der Ruhe in der Mitte des Sturms ist wissenschaftlich bewiesen. Die eigene Mitte zu kultivieren, war schon vor Covid-19 ratsam und eine Lebenskunst.
Auch wenn während der Corona-Zeit regelmässige Rituale im Aussen abrupt weggefallen sind und einige bis heute nicht wieder stattgefunden haben, wurden vielleicht während der letzten Monate vergessene Rituale im Inneren, in der Beziehung oder Familie abgestaubt, neue Rituale gefunden oder bereits bestehende noch mehr schätzen gelernt. Und ob sie nun als Rituale oder Gewohnheiten angesehen werden, tut letztendlich nicht zur Sache. Hauptsache ist, dass der Mensch Menschen, Tätigkeiten, Dinge und umsetzbare Werkzeuge, die ihn unterstützen, die ihm «wohl-tun» und die ihm auch in Ausnahmezeiten eine innere Sicherheit vermitteln, nahe bei sich wissen darf. Möge dies in der kommenden Zeit zur «Ruhe in der Mitte des Sturm» beitragen.
Barbara Goossens ist eidg. anerkannte Psychotherapeutin (ASP). Sie arbeitet als Kunstpsychotherapeutin im Bereich der ambulanten Psychotherapie am Spital Affoltern am Albis und in eigener Praxis in Zürich.
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1 Anstelle des üblichen Interviews mit einem Mitglied der ASP hat die Redaktion es aus aktuellem Anlass bevorzugt, einem Mitglied die Möglichkeit zu geben, über die Erfahrungen mit den Auswirkungen der COVID-19-Einschränkungen auf die Praxis zu schreiben.