Marianne Roth
https://doi.org/10.30820/2504-5199-2021-1-13
Freudig und mit grosser Erleichterung hat die ASP den Entscheid des Bundesrats vom 19. März 2021 zur Kenntnis genommen, das lange versprochene Anordnungsmodell zu genehmigen. Im Klartext heisst das, dass ab 1. Juli 2022 auf Anordnung eines Arztes oder einer Ärztin Psychotherapeut*innen ihre Therapien selbstständig durchführen und diese über die Grundversicherung abrechnen können. Anordnen können Ärzt*innen mit einer eidgenössischen oder anerkannten ausländischen Weiterbildung in Allgemeiner Innerer Medizin, in Psychiatrie und Psychotherapie, in Kinderpsychiatrie und -psychotherapie oder in Kinder- und Jugendmedizin oder Ärzt*innen mit dem interdisziplinären Schwerpunkt Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (SAPPM) der Schweizerischen Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin.1
Wer zugelassen wird
Zur Grundversicherung zugelassen werden Psychotherapeut*innen, die über eine kantonale Berufsausübungsbewilligung verfügen, ausgestellt vom Kanton, in dem sie praktizieren. Zudem müssen sie eine dreijährige klinische Erfahrung vorweisen, wovon mindesten ein Jahr in einer psychotherapeutisch-psychiatrisch anerkannten Einrichtung absolviert werden musste.
In den Übergangsbestimmungen ist geregelt, dass Personen beim Inkrafttreten der Verordnung über eine abgeschlossene Weiterbildung in Psychotherapie verfügen müssen. Zudem brauchen sie psychotherapeutische Berufserfahrung in der psychotherapeutisch-psychiatrischen Versorgung von mindestens drei Jahren, die von einer qualifizierten Supervision begleitet wurde. Bei einer Teilzeitbeschäftigung verlängert sich die Mindestdauer der drei Jahre an klinischer Erfahrung entsprechend. Eine kantonale Berufsbewilligung ist ebenfalls Voraussetzung für die Zulassung zur Abrechnung via Grundversicherung.
Was sich ändert
Zum heutigen Zeitpunkt werden Leistungen von Psychotherapeut*innen nur über die Grundversicherung vergütet, wenn sie delegiert und unter Aufsicht von dazu berechtigten Ärzt*innen in deren Praxen erfolgen. Delegiert arbeitende Psychotherapeut*innen sind in einem Angestelltenverhältnis und beziehen ihren Lohn von den Arbeit gebenden Ärzt*innen. Die Delegation wurde 1981 als Übergangslösung eingeführt und sollte Bestand haben, bis der Psychotherapieberuf per Psychologieberufegesetz (PsyG) geregelt ist und der Titel geschützt ist. Dies geschah auf den 1. April 2013. Doch es sollte nochmals über neun Jahre dauern, bis das Delegationsmodell nun endlich vom Anordnungsmodell abgelöst wird.
Behandlungen von selbstständig arbeitenden Psychotherapeut*innen müssen die Patient*innen selbst bezahlen oder es kann ein Teil über die Zusatzversicherung abgerechnet werden – sofern eine solche abgeschlossen wurde. Diese Praxis bewirkte, dass sich zahlreiche Personen vor allem aus dem Tieflohnsegment keine Psychotherapie leisten konnten, was zu einer Fehl- und Unterversorgung bestimmter Teile der Bevölkerung und auch in ländlichen Gebieten führte, wo das mangelhafte Angebot an psychischer Versorgung besorgniserregend ist.
Das Delegationsmodell, das viele Betroffene als demütigend bezeichnen, wird der Vergangenheit angehören. Die delegiert arbeitenden Psychotherapeut*innen werden sich überlegen müssen, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen: eine eigene Praxis eröffnen oder einen neuen Zusammenarbeitsvertrag mit den heutigen Arbeitgeber*innen abschliessen? Gemäss Verordnung bleibt ihnen bis Ende 2022 eine Übergangsfrist, sich auf die neue Realität einzustellen.
Defizite des neuen Modells
Anstelle wie bisher 40 Stunden, sollen anordnende Ärzt*innen in einem ersten Schritt nur 15 Sitzungen anordnen können. Danach müssen behandelnde Psychotherapeut*innen erneut 15 Sitzungen beantragen. Dies wird einen unnötigen administrativen Aufwand mit sich bringen und unter Umständen in der Therapie eine empfindliche Unterbrechung verursachen. Muss nach 30 Sitzungen die Therapie weitergeführt werden, muss der betreffenden Krankenkasse ein Bericht und ein Antrag zur Weiterführung der Therapie übermittelt werden. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb nicht behandelnde Psychotherapeut*innen diesen Bericht erstellen sollen, sondern anordnende Ärzt*innen, die den Krankheitsverlauf gar nicht kennen. Zudem ist vor Einreichung des Berichts eine Fallbeurteilung durch Fachärzt*innen mit den Weiterbildungstiteln Psychiatrie und Psychotherapie oder Kinder- und Jugendpsychiatrie oder -psychotherapie erforderlich. Dass dies weder für Psychotherapeut*innen, noch für anordnenden Ärzt*innen Sinn macht, ist offensichtlich. Es wird sich in der Praxis beweisen müssen, wie mit diesem Pferdefuss am besten umgegangen werden kann.
Zu Diskussionen Anlass gab im Vorfeld des Bundesratsentscheids neben der Anordnungsbefugnis die beabsichtige Einführung eines dritten klinischen Jahres, mit dem wir uns wohl werden abfinden müssen.
Die Umsetzung braucht Zeit
Viele Details müssen noch geklärt werden, denn die Einführung des neuen Modells braucht Zeit, was wir nicht genug betonen können. Zwar haben die Verbände bereits Vorarbeiten geleistet – ohne genaue Kenntnisse, wie die bundesrätliche Verordnung ausgestaltet sein würde. Doch es muss mit den Krankenkassen ein neuer Tarif ausgehandelt werden, da Psychotherapie nicht mehr über den Tarmed abgerechnet werden wird. Die Kantone stehen in der Verantwortung, das Bewilligungsverfahren für die Abrechnungsmodalitäten mit der Grundversicherung zu bestimmen, was die Einrichtung der entsprechenden Schnittstellen voraussetzt. Für praktizierende Psychotherapeut*innen heisst das, sich auf die Umstellung einzurichten, wobei wir sie so gut wie möglich unterstützen wollen.
Die Anpassung der Verordnung tritt auf den 1. Juli 2022 in Kraft – Zeit, die wir nutzen wollen, um einen möglichst reibungslosen Übergang zu gewährleisten.
Marianne Roth ist Geschäftsleiterin der ASP.
1 Verordnung des EDI über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (KLV) vom 19. März 2021.