Elise Wagner Hirschberg (2021): Ein Leben voller Zwänge und Scham. Auswirkungen von Familiengeheimnissen Basel: Verlag Josef Wagner, ISBN: 978-3-0330-8100-0, 208 Seiten, 18.50 EUR/CHF

https://doi.org/10.30820/2504-5199-2021-1-38

Die Autorin hat ihr Buch in Zusammenarbeit mit der Hauptfigur Melusin konzipiert und mithilfe ihrer wohl sehr sorgfältigen über 40 Jahre verfassten Tagebucheintragungen geschrieben. Neben der Darstellung der Vorgeschichte Melusins und ihrer eigenen Geschichte mit verschiedenen Krankheitsetappen gibt es am Buchende einige kürzere Abschnitte zu wichtigen Themen des Buches sowie eine kurze Abhandlung über Anorexie und Bulimie, woran die Hauptfigur in ihrer Jugend erkrankte – nach einer anorektischen Phase entwickelte sie eine Bulimie, die sie bis zu ihrem 70. Lebensjahr begleitete, ehe sie den Mut fand, diese anzugehen, nicht zuletzt weil sie fürchtete, den Anstrengungen des Erbrechens im Alter nicht mehr gewachsen zu sein. Die über 40 Jahre wiederholten Versuche bei verschiedenen Psychiatern, Hilfe in Form von einer ambulanten Psychotherapie zu erhalten, werden als gescheitert erwähnt. Genaueres hierüber erfährt man jedoch nicht.

Das Buch scheint sich an den Tagebuchaufzeichnungen der Hauptfigur zu orientieren. Die Geschichte ist chronologisch aufgebaut, beginnt mit den Eltern und ihrer Geschichte und endet mit den eigenen Kindern bzw. mit ihrem Ehemann, dessen eigene Geschichte ausführlicher dargestellt wird. Ganz an den Schluss der Familiengeschichte stellt die Autorin eine Auflistung über die Parallelen in der Geschichte des Ehepaars mit dem Fokus auf intrafamiliäre Dynamiken, die beide zu dem gemacht haben, was sie sind.

Danach wird die Bulimie genauer ins Visier genommen und verschiedene therapeutische Ansätze, die Melusin vor allem im Alter ausprobiert hat, vorgestellt. Besonders bei der Darstellung der ambulanten Psychotherapie erfolgt nun erstmals ein Perspektivenwechsel und ein kritisches Hinterfragen der Position der Hauptfigur. Zuvor wird alles, natürlich folgerichtig, handelt es sich ja um Tagebuchaufzeichnung von Melusin, aus ihrer Perspektive beschrieben. Während sie selbst dadurch eher in der Opferrolle erscheint, wird ihr Umfeld, besonders ihr Stiefvater und ihre Mutter, überwiegend aus Täter*innen bestehend dargestellt. Erst mit 70 Jahren gelingt es der Hauptfigur durch eine Therapie diese Sichtweise zu hinterfragen und zu erweitern. Das ist eindrücklich und berührend.

Dem folgt nun ein Analyseteil, in dem verschiedene Themen- und Problemkreise rund um Melusins Geschichte genauer beleuchtet werden. Was hier spannenderweise fehlt, sind die Themen «Familiengeheimnisse», «Zwänge» und «Scham». Allerdings wurden alle drei im Zuge der Darstellung der Lebensgeschichte auch immer wieder beleuchtet.

Im Epilog gibt die Autorin nochmals einen kurzen Einblick in die Entstehung des Buches, fasst einige Erkenntnisse zusammen, die für Melusin sehr wichtig waren, und gewährt einen Ausblick auf ihr Leben nach dem Buch. Es ist spürbar, dass die Autorin sich ein positiveres Ende gewünscht hätte, doch die Kinder scheinen nach wie vor grosse Mühe mit ihrer Mutter sowie ihrer Krankheit zu haben und ihr Vorwürfe zu machen. Wagner Hirschberg schliesst daher mit Melusins Hoffnung, eines Tages mit sich und ihren Kindern doch noch Frieden finden zu können. Dieses Ende ist so ehrlich und ungeschönt wie das ganze Buch.

Ganz am Schluss folgen noch ein paar kurze Definitionen zu den Krankheitsbildern sowie nützliche Links, unter denen sich Leser*innen weitergehend informieren können.

Das Buch liest sich durchgängig sehr gut. Sämtliche Kapitel haben eine angenehme Länge, bieten einen guten Einblick, gehen durchaus auch in die Tiefe, aber verlieren sich nicht im Detail. Das macht das Buch zu einer unkomplizierten Lektüre, die es für Lai*innen und Profis gleichermassen spannend macht. Wenn man sich einen sehr differenzierten, wissenschaftlichen Einblick in diese komplexen Krankheitsbilder wünscht, handelt es sich zwar nicht um das richtige Buch, denn es bleibt für eine fundierte Auseinandersetzung insgesamt zu skizzenhaft und überwiegend praktisch orientiert. Aber diesen Anspruch hat das Buch auch gar nicht. Es will den Leser*innen anhand einer wahren Geschichte ein schreckliches Krankheitsbild näherbringen und neben der äusseren Betrachtung auch etwas über die komplexeren Dynamiken aufzeigen, was der Autorin in der Kürze dieses Buches auch gut gelingt.

Veronica Defièbre